Seideinerzeitvoraus.
WienerModerne

© WienTourismus/Rainer Fehringer

„Wir müssen unter die Oberfläche schauen“

von:Stefan Müller& Robert Seydel

Nobelpreisträger Eric Kandel über die Wiener Moderne, seine Faszination für die Magie jener Jahre und den Biss zeitgenössischer Werwölfe.

Er gilt nach wie vor als Rockstar der Wissenschaft und ist einer der bedeutendsten Hirnforscher des 20. Jahrhunderts. Für seine bahnbrechende Arbeit zur Speicherung von Erinnerungen im Gedächtnis erhielt er im Jahr 2000 den Medizin-Nobelpreis. Auch im hohen Alter hört Eric Kandel, geboren 1929 in Wien, nicht auf zu forschen und sich für Kunst zu interessieren. Die Jahre der Wiener Moderne lassen ihn nicht los: Weil damals die moderne Wissenschaft vom Geist ihren Anfang nahm und auch Künstler dazu beitrugen, dem Grund der Gedanken nachzustellen. 2012 veröffentlichte er sein Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis“, das sich der „Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“ (so der Untertitel) widmet.

Herr Kandel, wann haben Sie sich zum letzten Mal in ein Bild verliebt?

Oh Gott. Ich verliebe mich andauernd in Bilder. Meine Frau und ich haben eine wunderbare Sammlung, wir kaufen ständig Kunst. Erst unlängst haben wir einen traumhaften Nolde erstanden.

Ist es aus neurologischer Sicht überhaupt möglich, sich in ein Bild zu verlieben – so wie der 14-jährige Ronald Lauder in Klimts Darstellung von Adele Bloch-Bauer?

Natürlich. Man kann sich in ein Buch verlieben, oder in Wein. Man kann sich in viele Dinge verlieben. Es ist üblicherweise keine körperliche Anziehung im Spiel, wie bei Personen. Man bekommt nichts zurück. Aber es gibt einen genüsslichen Aspekt daran etwas wirklich zu mögen.

Sie sammeln auch Kunst der Wiener Moderne …

Ja! Ich besitze eine sehr nette Klimt-Zeichnung, eine Studie von Schiele. Und ich habe verschiedene Kokoschkas, darunter ein Bild, das bei der Ausstellung „Klimt/Schiele/Kokoschka und die Frauen“ im Belvedere zu sehen war.

Was war das Besondere an jener Zeit?

Die Ringstraße wurde gebaut, alles war in Bewegung, und Wien wurde zu einer der schönsten Städte Europas. Kaiser Franz Joseph hatte 1867 festgelegt, dass alle Religionen gleichgestellt sind. Deshalb konnten sich die Leute frei in der Monarchie bewegen. Viele junge, ambitionierte und talentierte Juden kamen nach Wien. Sie unterstützten Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele auf wichtige Weise, indem sie ihre Kinder und Frauen von ihnen malen ließen.

Die Künstler hatten auch einen Anteil an der Entdeckung des Unterbewusstseins, wie Sie meinen. Was war deren Beitrag dazu?

Sie haben versucht, das Unbewusste darzustellen – speziell Kokoschka und Schiele. „Ich habe das Unbewusste unabhängig von Freud entdeckt“, hat Kokoschka gesagt. Er ist mit Sicherheit stark von Sigmund Freud beeinflusst worden.

Kandel ist hellwach: Jetzt ist der Name des Mannes gefallen, der auch ihn stark beeinflusst hat. Die Künstler brachten Triebe, Sexualität und Emotionen auf die Leinwand, die Freud als unbewusste Triebfeder des menschlichen Handelns ausgemacht hatte. Freud wollte mehr über das Gehirn erfahren. Weil er nicht die nötigen technischen Mittel dazu hatte, entwarf er zunächst eine Theorie des Geistes. Kandel setzte seine Arbeit viele Jahre später sozusagen fort und enträtselte die grundlegenden biologischen Vorgänge im Gehirn. Freud hatte den Anstoß zu seiner Forschung gegeben.

Im Jahr 2000 wurde KANDEL zusammen mit dem Schweden AVRID CARLSSON und dem US-Amerikaner PAUL GREENGARD der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für ihre Entdeckungen zur Signalübertragung im Nervensystem verliehen.

© Anders Wiklund/TT News Agency/picturedesk.com

Wann kam Ihnen Freud das erste Mal in den Sinn?

Das geht auf meine College-Jahre zurück, als ich für Ernst Kris1gearbeitet habe.

Was faszinierte Sie an Freuds Arbeit?

Der ganze Ursprung eines unbewussten mentalen Lebens, die Interpretation von Träumen. Die Psychopathologie des täglichen Lebens. Jeder Ausrutscher, den du machst, hat Bedeutung.

  • 1Ernst Kris (1900-1957) war ein aus Österreich stammender US-Kunsthistoriker und Psychoanalytiker. 1924 lernte er Sigmund Freud kennen. 1938 emigrierte er nach London und später in die USA. Kris lieferte wertvolle Beiträge zur psychoanalytischen Interpretation von Kunstwerken.
  • 2In der Berggasse 19 befand sich bis zu seiner Emigration 1938 Sigmund Freuds Praxis. Seit 1971 ist hier das Sigmund Freud Museum untergebracht.

Wären Sie ohne Freud der gefeierte Wissenschaftler geworden, der Sie heute sind?

Wahrscheinlich nicht. Er hat mein Leben an jedem einzelnen Punkt beeinflusst. Mein Interesse als Wissenschaftler, mehr über das Lernen und die Erinnerung herauszufinden, kam von der Psychoanalyse. Die Leute fragen mich immer, ob die Psychiatrie je von Nutzen für mich war, weil ich nie praktiziert habe. Sie beeinflusst mein Denken jeden Tag.

Warum haben Freud und Wien so gut zusammengepasst?

Obwohl ihn die medizinische Universität nicht sehr gut behandelt hat, war er der Meinung, dort eine sehr gute Ausbildung erhalten zu haben. Und er mochte die Berggasse2. Dort fühlte er sich wohl. Er hatte einen großen Kreis an Freunden, von denen viele Analytiker waren.

Hätte er auch in einer anderen Stadt arbeiten können?

Nein. Er wollte ja nicht einmal gehen, als Hitler schon da war. Er wollte bleiben, bis wirklich klar wurde, dass sein Leben in Gefahr ist – weil er Wien geliebt hat.

Kandel und Wien – auch das ist eine besondere Beziehung. Er wuchs in der Severingasse 8 auf, nahe der Berggasse und des Josephinums – das für Wiens medizinische Errungenschaften steht. Auch das Belvedere mit Schieles und Klimts Bildern war nicht weit. 1939 musste er nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie in die USA flüchten. Fortan blickte er kritisch auf Österreichs lange verdrängte Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Auszeichnung zum Ehrenbürger Wiens 2009 bezeichnete er als „bittersüß“.

Kafka beschrieb die Jahre der Wiener Moderne als nervöses Zeitalter. Was machte die Psyche der Stadt Wien um 1900 aus?

Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht dort war. Aber es gab eine Menge Angst. Kaiser Franz Joseph war auf dem absteigenden Ast, und ich glaube, die Leute haben das gespürt. Franz Josephs Beziehung zum Deutschen Kaiser wurde sehr zugunsten Deutschlands ausbalanciert. Und die Idee eines Krieges verängstigte viele Menschen. Es wäre aber gar nicht nötig gewesen, in den Krieg zu ziehen. Franz Joseph hat einen schwerwiegenden Fehler begangen und damit Österreich über den Zweiten Weltkrieg hinaus zerstört.

Die Habsburger-Monarchie war ein großes Reich, aber Wien eine relativ kleine Stadt. Würden Sie zustimmen, dass es mit seiner Größe das perfekte Biotop für eine fruchtvolle Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst war?

Ja. Weil sich die Leute dort treffen konnten. Wissenschaftler sind von der Universität ins Kaffeehaus gegangen und haben dort ihre Konversationen fortgeführt. In Wien war diese Bewegung vom akademischen zum sozialen Kontext leicht möglich.

Es ist also kein Zufall, dass sich die Magie dieser Jahre – wie Sie es formuliert haben – in Wien entfaltet hat?

Nein, es gab ideale Voraussetzungen dafür.

Und alle sprechen von berühmten Namen. Von Klimt, Schiele, Schnitzler …

… oder Otto Wagner.

Sie sind einer der wenigen, der auch von Carl von Rokitansky spricht, dem groSSen Pathologen des 19. Jahrhunderts, der praktisch Zugang zu jedem Leichnam in der Stadt hatte.

Ja, fantastisch! Seine Leistung wird noch immer nicht voll anerkannt. Das Josephinum hat einmal eine Ausstellung über ihn gemacht, die auf meinen Schlussfolgerungen beruhte.

ERIC KANDEL beim Interview am Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien.

© WienTourismus/Rainer Fehringer

Demnach war Rokitansky so einflussreich, weil er als erster systematisch unter die Haut blickte und die Medizin damit aus der Philosophie in die faktenbasierte Moderne holte.

Nicht nur das. Er war auch ein außerordentlicher Fürsprecher der Wissenschaft und sehr progressiv: eine wirklich außergewöhnliche Person und ein großer Vertreter der Wiener Medizinischen Schule.

Hätte es die Wiener Moderne ohne ihn gegeben?

Schwer zu sagen, ob eine Person so wichtig war. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte es wohl keinen Salon bei Berta Zuckerkandl gegeben, wo viele Künstler von den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaft hörten. Ich glaube, man muss ihn mit einbeziehen. Ich sehe es so, dass er ganz wichtig war.

Rokitansky würdigen – das tut Kandel gerne. In seinem Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis“ strich er dessen Einfluss auf das Entstehen der modernen Medizin heraus. Der geborene Böhme war liberal, tolerant und weltoffen – und streng an den Grundsätzen der Wissenschaft orientiert. Ein Verfechter von interdisziplinärer Zusammenarbeit, der die Patienten nie aus dem Blick verlor. Auch Kandel will als Brückenbauer in Erinnerung bleiben: zwischen jenen Disziplinen, die sich mit Geist und Gehirn beschäftigen.

Woher kam damals die Faszination der Künstler für die Erkenntnisse der Wissenschaft? Waren sie grundsätzlich aufgeschlossener, oder war es der Instinkt dort zu sein, wo Wandel passierte?

Ich glaube Letzteres. Künstler hatten sich schon lange Zeit vorher für Wissenschaft interessiert.

Sie meinten, Oskar Kokoschka habe die Wiener Kunstszene gesprengt wie ein Werwolf ein Damenkränzchen. Gibt es heute noch solche Werwölfe?

Ja, es gibt tolle Leute. Lucian Freud zum Beispiel. Jeff Koons, mit dem ich gut befreundet bin, ist ein sehr ungewöhnlicher Künstler mit enormem Talent.

Aber könnte Kunst heute eine ähnliche Rolle spielen wie damals?

Da bin ich mir sicher. Zwar ist die Kunst nicht mehr so kohärent. Aber ich habe zum Beispiel vor kurzem ein Buch über abstrakten Expressionismus geschrieben. Die New Yorker Kunstszene zwischen 1940 und 1960 war jener Zeit ganz ähnlich.

Was bleibt von der Wiener Moderne? Was ist die wichtigste Botschaft?

Dass man wirklich unter die Oberfläche schauen und die Dinge gründlich studieren soll. So wie es damals geschah. Die Botschaft an die Gesellschaft ist, dass es wichtig ist zu lernen, worum es in der Wissenschaft geht.

Wie viel wissen wir nun über das menschliche Gehirn?

Ich würde sagen, wir haben zehn Prozent davon enträtselt.

Werden wir es eines Tages schaffen, alles zu verstehen?

Warum nicht.